„Heute ist Donnerstag, der 30. Juni 2022“, sagt die 7-jährige Nedzhlya und beginnt damit das Morgenritual in einer der fünf Intensivklassen an der Martin-von-Tours-Schule, in denen Kinder und Jugendliche mit geringen Deutschkenntnissen beschult werden. Sofort gehen weitere Hände nach oben; die 7- bis 11-Jährigen sind mit Begeisterung bei der Sache. Alle Blicke ruhen auf der Tafel, an der kleine Kärtchen das Datum und die Jahreszeit anschaulich abbilden. „Das habt ihr gut gemacht“, lobt die Klassenlehrerin Lena Becker am Ende der Runde zufrieden. „Und jetzt schauen wir uns die Farben an!“ Dazu laufen die Kinder durch den Raum und zeigen auf Gegenstände in der jeweils gewünschten Farbe. Bewegungselemente sind ein wichtiger Bestandteil des fremdsprachlichen Deutschunterrichts in der Grundstufe: Die Kinder sollen die neuen Wörter nicht nur richtig sprechen, verstehen und schreiben können, sondern die deutsche Sprache lebendig mit allen Sinnen erfahren. Deshalb geht es auch manchmal mit der Sozialarbeiterin Martina Trogrlic in den Neustädter Wald, um Käfer, Spinnen oder Blätter im Lupenglas zu beobachten, Mini-Flöße zu bauen oder Blüten zu pressen. „Ich liebe den Wald“, sagt eine Schülerin. „Ich liebe die Schule.“

Im Klassenzimmer arbeiten die Grundschüler konzentriert in ihren „Zebra“-Heften oder an Arbeitsblättern. Die Lehrkräfte gehen reihum, kontrollieren und korrigieren und zeigen den richtigen Schwung beim Schreiben. Ältere Schüler helfen ganz selbstverständlich den jüngeren – ein Vorteil in einer altersgemischten Lerngruppe. Die Vorkenntnisse innerhalb der Klassen sind sehr unterschiedlich: Einige können schon schreiben, andere kennen noch keinen einzigen Buchstaben. Manche können schon gut Deutsch und verbringen neben dem Unterricht in Regelklassen nur noch einzelne Stunden in der Intensivklasse, andere sind gerade erst in Deutschland angekommen; für sie ist alles noch fremd und neu. Immer wieder mischt sich auch Englisch in das Unterrichtsgespräch. Sätze wie „Hello teacher, kommst du bitte?“ sind keine Seltenheit in den Intensivklassen der Neustädter Gesamtschule, die aus bis zu 16 Kindern und Jugendlichen bestehen. Maximal zwei Jahre besuchen die Schüler mit Migrationshintergrund eine Intensivklasse – Ziel ist immer eine schnellstmögliche Integration in den Regelunterricht.

Die Schülerinnen und Schüler kommen beispielsweise aus Rumänien, Bulgarien und der Türkei, Bosnien oder dem Kosovo, afrikanischen und arabischen Ländern und seit Beginn des Krieges auch zunehmend aus der Ukraine, doch sie haben eines gemeinsam: schnell die Sprache zu lernen, um sich verständigen zu können und dadurch Teilhabe an Bildung und Gesellschaft zu erfahren. Dabei bringen sie Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Auslandsschulen mit, die sich in den Klassen zu einem multikulturellen Mosaikteppich verweben. Es ist immer wieder beeindruckend, wie die Schüler untereinander kommunizieren, wie leicht es ihnen fällt, mit ein paar Brocken Deutsch, Englisch, der Muttersprache sowie Gestik und Mimik miteinander zu lernen und zu spielen. Gespielt wird immer gerne, vor allem in den Grundschulklassen: Bei „Junior-Halligalli“ oder „Memory“ prägen sich die Wörter gleich doppelt so leicht ein.

Diese Beobachtungen bestätigen auch Grit Adam, Heidi Bader und Vanessa Bartolomei, die – wie Lena Becker – seit Beginn dieses Schuljahres jeweils eine Intensivklasse unterrichten. Die Martin-von-Tours-Schule setzt bei der Arbeit in diesen Klassen auf ein multiprofessionelles Team: Ausgebildete Förderschul-, Haupt- und Realschul- sowie Gymnasiallehrkräfte, aber auch Sozialarbeiterinnen und eine Logopädin mit Sprachdiplom beschulen oder begleiten die Klassen. In den beiden ukrainischen Lerngruppen unterstützt je eine ukrainische Lehrerin den Unterricht durch Übersetzungen und erklärt, welche kyrillischen Buchstaben den lateinischen entsprechen. Hier ist Team-Teaching an der Tagesordnung.

Viele Lehrkräfte belegen zudem derzeit Fortbildungen im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“, denn der Bedarf wächst stetig. Unterstützt werden die Lehrkräfte nicht nur durch eine intensive Zusammenarbeit mit der Schulleitung, dem Schulamt und der Neustädter Erstaufnahmeeinrichtung, sondern auch durch die Schulpsychologin und Mitarbeiterinnen des Beratungs- und Förderzentrums (BFZ).

Für die Lehrerinnen und Lehrer an der Martin-von-Tours-Schule ist der Unterricht in Intensivklassen eine relativ neue Herausforderung: „Die Lernvoraussetzungen der Kinder sind sehr unterschiedlich und der Differenzierungsaufwand ist hoch“, wissen Lena Becker und Vanessa Bartolomei, die in der Waldschule viel Zeit am Kopierer verbringen, um ganz unterschiedliche Arbeitsblätter für die gleiche Schulstunde zu kopieren. „Man muss sehr flexibel und auf alles vorbereitet sein“, erklärt auch Heidi Bader, die eine Intensivklasse an der Sekundarstufe in der Querallee leitet. „Das ist herausfordernd, aber auch spannend.“ Gerade in Gruppen mit Kindern und Jugendlichen aus der Erstaufnahmeeinrichtung ändere sich die Zusammensetzung sehr schnell.

 Auch emotionale Erfahrungen müssen im Unterricht berücksichtigt werden: „Ich bekomme Gänsehaut, wenn manche Schüler von ihrer Flucht erzählen“, berichtet Vanessa Bartolomei. „Da gibt es Kinder, deren Eltern politisch verfolgt sind, die mit dem Boot geflohen sind oder lange im Flüchtlingscamp waren. Ein Kind war sieben Jahre von seinem Vater getrennt.“ Ähnliche Erfahrungen hat auch Grit Adam gemacht, die dank ihres Germanistik- und Russisch-Studiums eine besonders geeignete Klassenleitung für die neue ukrainische Klasse ist, die es seit April an der Martin-von-Tours-Schule gibt: „Diese Jugendlichen im Alter von elf bis 16 Jahren haben einiges erlebt und ihr Leben hat sich schlagartig verändert.“ Die in den Intensivklassen eingesetzten Lehrkräfte benötigen daher besonderes Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Schülern. Es geht nicht nur um Wissenserwerb, sondern darum, die Schule als sicheren Ort zu erfahren, Freundschaften zu schließen und (wieder) lachen zu können. „Einige betreten zum ersten Mal ein Klassenzimmer und müssen zunächst Strukturen erlernen“, erklärt Vanessa Bartolomei, die in ihrer Klasse Kinder aus der Erstaufnahmeeinrichtung beschult. „Die Kinder benötigen Zeit, um hier anzukommen und sich auf Regeln und Rituale einzulassen“. Viele Schüler seien sehr dankbar für die Möglichkeit des Schulbesuchs. „Es kommt sehr viel zurück!“, sind sich die Lehrerinnen einig. „Manche Schüler schreiben Briefe für ihre Lehrer, obwohl sie kaum schreiben können, oder wollen Blumen kaufen, obwohl sie kaum Geld haben“, erklärt Heidi Bader. „Das sind immer wieder berührende Momente. Die Kinder schätzen wirklich die Zeit, die man mit ihnen verbringt.“ Verständigung sei auch ohne Worte möglich: „Ein Lächeln wird in jeder Sprache verstanden.“